Comeback: ungeschützter Sex

Wir stehen vor einem paradoxen Phänomen: Trotz umfangreicher Informationen und Aufklärungskampagnen über sexuell übertragbare Infektionen erleben wir in der Schweiz ein Comeback des ungeschützten Geschlechtsverkehrs unter jungen Menschen. Mit Sirina und Robin gehen wir der Frage nach, warum sie Sex ohne Gummi haben.

Autorin: Valery Furrer
Titelbild: Safer Sex ist nicht mehr im Trend / Bild: Bru-nO

Sirina ist überrascht, wie oft sie im Bett von ihrem Gegenüber gefragt wird, wie sie verhütet. Auf diese Frage, möchte sie am liebsten trotzig zurückfragen: «Wie verhütest du denn?». Einerseits ist es gut, wenn der/die Sexualpartner:in vor dem Sex über Verhütung sprechen will, andererseits hat sie bei dieser Frage immer das Gefühl, dass die Verhütung nur von ihr als Frau abhängt. Oder dass ihr Gegenüber mit dieser Frage herausfinden will, ob sie für Sex ohne Kondom zu haben ist. «Und wenn ich jetzt sage, dass ich die Pille nehme? Würde er dann das Kondom direkt weglassen?» Solche oder ähnliche Gedanken machen sich viele junge Menschen in der Schweiz. Es scheint sich ein Trend zu Sex ohne Verhütung abzuzeichnen. Das zeigen nicht nur die Statistiken des BAG, sondern auch Gespräche mit Menschen unter 25 Jahren. Robin ist einer von ihnen. Er ist froh, wenn seine Sexualpartner:innen die Kondome auspacken und er diese Entscheidung nicht treffen muss. Sein erster Impuls sei: «Einfach machen, bis ich davon abgehalten werde ohne Kondom einzudringen.» Warum er das macht? «Ist einfach geiler ohne.» Etwas, das man oft hört, wenn man der Frage nachgehen will, warum man ungeschützten Sex dem sicheren vorzieht. Und doch: Ein Kondom überziehen, wenn es gerade richtig zur Sache geht, das «zerstört den Flow komplett», meint auch Sirina.

Tripper vor Kind

Sirina hat die Erfahrung gemacht, dass ihre männlichen Sexualpartner grundsätzlich davon ausgehen, dass sie die Pille nimmt oder auf andere Weise verhütet. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass nach ungeschütztem Sex selten darüber gesprochen wird, was nun zu tun ist, meint sie. Grundannahme, dass eine Frau verhütet, sei aber keine Ausrede, kein Kondom zu benutzen. «Die Spirale zum Beispiel schützt nicht vor sexuell übertragbaren Infektionen», sagt Sirina. Sie ist sich bewusst, dass sie trotz Aufklärung in der Schule und damit besserem Wissen meistens auf ein Kondom verzichtet. Sie ist immer unglaublich froh, wenn ihre Periode einsetzt. «Nach ungeschütztem Sex denke ich nie an Infektionen, sondern nur daran, dass ich schwanger sein könnte», sagt Sirina.

So sieht es auch Robin. Seine grösste Angst nach ungeschütztem Sex ist es, ungewollt Vater zu werden. «Da hole ich mir lieber Chlamydien, das kann man wenigstens behandeln.» Nach dem Sex ohne Gummi fühlt er sich unsicher, weil ihm spätestens dann klar wird, dass er keine Kontrolle über mögliche Folgen hat. Besonders erschüttert hat ihn die Geschichte eines Freundes, der letztes Jahr ungewollt Vater wurde. Für Robin eine persönliche Horrorvorstellung. Doch der Schock habe nicht lange angehalten. Schnell ist er zu seinen alten Gewohnheiten zurückgekehrt. Der Hauptgrund, warum er und andere in seinem Alter nicht verhüten, sei Bequemlichkeit, «convenience» wie er es nennt. Im Moment des Vergnügens scheint es einfach praktischer und intensiver zu sein, Sex ohne Kondom zu haben. «Obwohl ich weiss, dass es nur ein einziges Mal braucht, um sich anzustecken oder eine Schwangerschaft zu riskieren, entscheide ich mich oft aus Leichtsinn und Dummheit gegen Verhütung», sagt Robin. Die Frage, ob der Konsum von Social Media ein Grund für ungeschützten Sex sein könnte, verneint er. Er glaubt eher, dass Pornografie eine Rolle spielen könnte. In Pornos sehe man eigentlich nie Kondome.

Für Sirina sind Gedanken wie „Scheiss drauf, es kommt schon gut“ oft die Hauptgründe, warum sie kein Kondom benutzt. Auch Alkohol spiele eine Rolle, ebenso wie mangelnde Kommunikation mit einem einmaligen Sexualpartner. «Wenn die Zeit gekommen ist, ein Kondom zu benutzen, fehlt oft die Kommunikation. Wenn ich betrunken bin, habe ich keine Lust, das Thema anzusprechen», sagt Sirina. Nach dem Sex werde meist nicht darüber gesprochen, dass man nicht verhütet hat. Sie hat das Gefühl, dass viele Männer davon ausgehen, dass die Frau die Pille nimmt. Das bestätige für sie die These, dass sich die Jugendlichen der Ansteckungsgefahr mit sexuell übertragbaren Infektionen nicht wirklich bewusst sind.

Testen für mehr Sicherheit

Robin lässt sich alle drei Monate auf sexuell übertragbare Infektionen testen. Dies kann er dank eines Angebots der Stadt Zürich für Personen unter 25 Jahren kostenlos in einem Testzentrum tun. Zürich war 2023 die erste Stadt, die kostenlose Tests auf sexuell übertragbare Infektionen einführte. Robin ist sich bewusst, dass er mit dieser hohen Frequenz nicht zur Norm gehört. Obwohl es paradox klingt, fühlt er sich beim ungeschützten Sex sicherer, wenn er weiss, dass er gesund ist. Robin hat sich auch gegen HPV impfen lassen. «Aus Respekt vor meinen Sexualpartnerinnen», sagt er. Infektionen mit HP-Viren sind weit verbreitet und können im schlimmsten Fall zu Krebs führen. Sie betreffen Männer und Frauen gleichermassen.

Aus Angst vor dem Ergebnis hat sich Sirina erst kürzlich zum ersten Mal auf sexuell übertragbare Infektionen testen lassen. Der Test war negativ. Noch einmal Glück gehabt. Mit ihrem aktuellen Sexpartner könne sie sehr gut über Verhütung und sexuelle Gesundheit sprechen. «Wir hatten bisher keinen ungeschützten Sex und haben vereinbart, dass auch er sich auf sexuell übertragbare Infektionen testen lässt», sagt Sirina. Im Moment fühlt sie sich wohl dabei, mit ihrem Partner über Verhütung zu sprechen. Weiter sagt sie: «Es gab auch schon andere Zeiten. Viele Männer sind einfach noch nicht so weit wie die Frauen.»

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Testen lassen

Möchtest du dich auch testen lassen? Wir haben eine Auswahl für dich zusammengestellt. Die meisten Angebote sind kostenpflichtig. Informiere dich über weitere Angebote und mögliche Aktionen in deiner Stadt.

Stadt Zürich (Stadtzürcher*innen bis 25 gratis testen lassen):
Pilotprojekt «Gratistests STI» – Stadt Zürich (stadt-zuerich.ch)
Stadt Bern:
STI-Test | Checkpoint Bern (mycheckpoint.ch)
Basel:
Checkpoint Basel | Sexuelle Gesundheit Schweiz (sexuelle-gesundheit.ch)
St. Gallen:
Sprechstunde für sexuell übertragbare Krankheiten (STI) | Kantonsspital St.Gallen (kssg.ch)
Luzern:
Checkpoint Luzern – S&X Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz (sundx.ch)
Du möchtest es etwas anonymer? Du kannst dir auch ein Testkit nach Hause schicken lassen:
STI Check – Lass dich auf sexuell übermittelbare Krankheiten (STI / STD) testen – lassdichtesten.ch

Aids – Schreckgespenst einer ganzen Generation

Die Wende kam mit dem HI-Virus

In den 60er Jahren erlebte die Gesellschaft mit der Einführung der Antibabypille eine sexuelle Revolution. Doch mit der Unbeschwertheit wuchs auch die Gefahr: Ungeschützter Sex war an der Tagesordnung. 1981 kam der Weckruf. Die Angst vor Aids griff um sich und das Kondom gewann an Bedeutung. Mehr als 40 Jahre später erlebt die Schweiz ein beunruhigendes Comeback der HIV-Infektionen.

Von einem Comeback zu sprechen bedeutet immer, dass es eine Zeit gegeben haben muss, in der die Situation bereits einmal so war, wie sie heute ist. Mit dem Aufkommen der Antibabypille in den 60er Jahren erlebte auch der ungeschützte Geschlechtsverkehr einen Aufschwung. Neben dem gesellschaftlichen Druck auf die Frau, der mit dieser Entwicklung einherging, entstand eine kollektive Unbekümmertheit um heteronormative Sexualität. Vor der Pille wurde häufig die Temperaturmessung zur Verhütung ungewollter Schwangerschaften angewendet. Dabei wurde während der fruchtbaren Tage zusätzlich mit Kondomen verhütet. Somit hatte das Kondom selbst bei wechselnden Partner:innen lediglich eine Rolle bei der Schwangerschaftsverhütung inne.

Weckruf Aids-Pandemie

1982 wendete sich das Blatt und die Angst ging um. Die ersten Aidsfälle in der westlichen Welt wurden bekannt. Zunächst als «Schwulenseuche» abgetan, breitete sich die Krankheit auch unter Heterosexuellen aus. Seinen Höhepunkt erreichte das Virus 1990 mit weltweit über 10 Millionen Infektionen. Ab diesem Zeitpunkt wurde man auch in der Schweiz vorsichtiger. Die Angst, sich mit Aids anzustecken, führte zu einem Umdenken. Das Kondom wurde zum ständigen Begleiter von Homo- und Heterosexuellen. Unvergessen ist der Appell des damaligen Tagesschausprechers Charles Clerc, der 1987 in der Hauptausgabe ein Präservativ in die Kamera hielt, um auf den Schutz vor HIV und Aids aufmerksam zu machen.

Ähnlich wie bei der Corona-Pandemie verloren viele Menschen jemanden aus ihrer Mitte. Familienmitglieder und Freund:innen starben an Aids. Diese Erfahrungen im sozialen Umfeld machte die Menschen hilflos, aber gleichzeitig sensibilisierten sie für das Thema der sexuell übertragbaren Infektionen.

Anstieg der HIV-Infektionen

Die Zahl der sexuell übertragbaren Infektionen ist weltweit gestiegen. Der WHO-Bericht 2022 spricht von über einer Million Ansteckungen pro Tag mit den drei häufigsten behandelbaren Infektionen: Syphilis, Tripper und Chlamydien.

Wie ist die Situation in der Schweiz? Aids hat hierzulande in den letzten Jahren ein beunruhigendes Comeback gefeiert. Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz erstmals seit über 40 Jahren wieder mehr HIV-Infektionen registriert. Aber auch andere sexuell übertragbare Infektionen haben zugenommen. Vor allem die Ansteckung mit Chlamydien nimmt jährlich zu. Mit einer neuen Safer-Sex-Kampagne will das BAG die Bevölkerung für den Gebrauch von Präservativen sensibilisieren.

Masturbieren mit Kondom: What?

Beeinträchtigt Pornokonsum im Jugendalter das sexuelle Selbstbild?

Laut der Sexualpädagogin Heike Junge entscheiden Jugendliche beim Sex mehr mit der Libido als mit dem Kopf. Im Audiobeitrag erklärt sie, wie sie vor allem jungen Männern beim Thema Verhütung auf die Sprünge hilft. Und wie Pornografie das heutige Sexverständnis beeinflusst.

Was sind STI und wie kann ich mich schützen?

Sexuell übertragbare Infektionen, kurz STI (sexually transmitted infections), können durch Sex übertragen werden. Eine Übertragung ist auch durch Blut oder Körpersekrete möglich. Die meisten STI übertragen sich sehr leicht. Nachfolgend findest du eine Liste der häufigsten STI:

1. Chlamydien

  • Symptome: Häufig keine, sonst Schmerzen beim Urinieren, Ausfluss
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr
  • Prävention: Kondome, regelmässige Tests

2. Gonorrhoe (Tripper)

  • Symptome: Schmerzen beim Urinieren, eitriger Ausfluss
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr
  • Prävention: Kondome, regelmässige Tests

3. Syphilis

  • Symptome: Geschwüre, Hautausschlag, Fieber
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr, direkter Kontakt mit Syphilis-Geschwüren
  • Prävention: Kondome, regelmässige Tests

4. Humanes Papillomavirus (HPV)

  • Symptome: Oft keine, sonst Warzen, in seltenen Fällen Krebs
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr, Hautkontakt
  • Prävention: Kondome, HPV-Impfung

5. Herpes genitalis

  • Symptome: Schmerzende Bläschen oder Geschwüre im Genitalbereich
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr, Hautkontakt
  • Prävention: Kondome, Vermeidung von Hautkontakt mit Bläschen

6. HIV/AIDS

  • Symptome: Anfangs grippeähnliche Symptome, später Immunschwäche
  • Übertragung: Vaginal-, Anal- und Oralverkehr, Blutkontakt
  • Prävention: Kondome, PrEP, regelmässige Tests