Allein oder in einer Wohngemeinschaft zu leben ist für viele selbstverständlich. Menschen mit einer Behinderung hingegen stossen auf dem Weg zur eigenen Wohnung auf viele Hindernisse. Welche Bemühungen von Betroffenen dahinterstecken und wie die Politik die Lage verbessern möchte.

Autor: Fabiano Vanetta

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Ausser Haus: Jan Oehninger in der Sporthalle bei seiner Freizeitbeschäftigung, dem Powerchair-Hockey. (Bildquelle: Fabiano Vanetta)

Freie Wohnungen suchen, besichtigen, bewerben und mit etwas Glück einziehen. Die erste eigene Bleibe ist für viele junge Menschen ein aufregender Meilenstein im Leben. Die Wohnungssuche verlangt vielerorts Durchhaltevermögen und auch Glück. Über die Wahl der Wohnform und des Wohnortes muss man sich aber normalerweise keine grossen Gedanken machen. Für Menschen mit einer Behinderung ist die Suche nach einer eigenen Wohnung beschwerlicher. Unzugängliche Immobilien sowie die Administration rund um die finanzielle Unterstützung stellen für viele eine Herausforderung dar. Dazu kommt, dass die körperliche oder geistige Behinderung oftmals Unterstützung im Alltag erfordert. Anders als in einer betreuten Institution für Behinderte muss diese selbst organisiert werden. Damit auch Personen mit Assistenzbedarf in autonomen Wohnformen leben können, wurde 2012 der Assistenzbeitrag eingeführt.

Der Assistenzbeitrag kurz erklärt

Menschen mit einer Behinderung haben die Möglichkeit, einen Assistenzbeitrag zu beantragen. Damit können sie selbständig in einem Wohnobjekt leben und ihre eigenen Assistentinnen und Assistenten einstellen und entlöhnen. Finanziert werden diese Beiträge durch die Invalidenversicherung (IV). Die zustehenden Entschädigungen werden nach Schweregrad der jeweiligen Beeinträchtigung und dem jeweiligen Assistenzbedarf berechnet. Im Jahr 2022 erhielten gemäss Bundesamt für Statistik rund 4200 Personen Unterstützungsgelder.

Ein Empfänger davon ist der 37-jährige Jan Oehninger. Seit Geburt lebt er mit der Diagnose Dystrophie (Typ Duchenne), einer Muskelerkrankung, die in der Regel nur Männer betrifft. Sein Körper kann kein «Dystrophin» mehr produzieren, was für die Stabilität von Muskelfasern notwendig wäre. Das führt dazu, dass Muskelfasern abgebaut werden. Oehninger ist aufgrund der fortschreitenden Erkrankung seit seiner Jugend permanent auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach einigen Jahren in einer Wohnstiftung in Zürich wuchs bei ihm das Bedürfnis nach der eigenen Wohnung.

Im Videoporträt spricht Jan Oehninger über sich selbst, wie er zum selbständigen Wohnen gekommen ist, welche Unterstützung er im Alltag hat und über seine finanziellen Herausforderungen:

Die Mietkosten oder die Bauweise schmälerten zu Beginn die Vorfreude auf die eigene Wohnung. «Entweder waren die Wohnungen zahlbar, dann aber nicht barrierefrei oder sie waren für mich erreichbar, aber dann zu teuer», schildert Oehninger. Oft erkannte er die Barrieren erst bei den Besichtigungen. Er erkundigte sich jeweils über die Grösse des Aufzuges und liess sich von der Verwaltung versichern, dass die Wohnobjekte für ihn zugänglich sind. Teilweise waren die Angaben nicht korrekt. Es kam vor, dass er wieder zurückreisen musste, ohne die Wohnung überhaupt gesehen zu haben.

In einer Wohn-Genossenschaft auf dem ehemaligen Zwicky-Areal zwischen Wallisellen und Dübendorf fand der 37-Jährige schliesslich eine bezahlbare Wohnung. Vor dem Einzug musste lediglich die Rampe zum Balkon baulich verändert werden – für ihn entstanden dank des genossenschaftlichen Systems keine Zusatzkosten. «Die Bewohnerinnen und Bewohner hier sind sehr sozial eingestellt», erzählt Oehninger. An regelmässigen Versammlungen kommt er mit den anderen Menschen aus dem Quartier in Kontakt. Dennoch stellt er zunehmend fest, dass er sich etwas isoliert hat. Er wolle in Zukunft aber wieder mehr Kontakte mit der Nachbarschaft knüpfen und allenfalls neue Assistentinnen und Assistenten aus dem Quartier akquirieren.

Büroarbeit eines Arbeitgebers

Oehninger wird durch die Anstellung seines Personals zum Arbeitgeber mit allen Rechten und Pflichten. «Anfangs war das Administrative etwas überfordernd», blickt er zurück. Da er keine geistige Behinderung hat, übernahm er die Büroarbeit von Anfang an gerne selbst. Unterdessen sei es eine Routine-Arbeit. Er muss monatlich der IV-Stelle seines Wohnkantons die Lohnabrechnung seiner Assistentinnen und Assistenten abgeben. Damit stellt er der Invalidenversicherung eine Rechnung. Nebst dem Mietzins und den alltäglichen Auslagen sind da auch die Lohnkosten für seine personelle Unterstützung. Da er aktuell nicht arbeitstätig ist, finanziert er seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch die IV-Rente, eine Hilflosenentschädigung (siehe Box) sowie dem Assistenzbeitrag.

Die Hilflosenentschädigung kurz erklärt

Alle Personen, die für die alltäglichen Tätigkeiten Hilfe benötigen, haben Anspruch auf eine Hilflosentschädigung. Laut Auflistung der «Informationsstelle AHV/IV» sind dies insbesondere das Ankleiden, Aufstehen, Absitzen, Essen und die Körperpflege. Auch diese finanzielle Unterstützung wird über die Invalidenversicherung finanziert. Die IV-Statistik von 2022 des Bundes zeigte, dass damals rund 38’000 Personen Entschädigungen im Umfang von 25 Millionen Franken bezogen hatten.

Seine Abrechnung Ende Monat gehe mal besser und mal schlechter auf. «Gross Geld auf die Seite legen kann ich zurzeit nicht», resümiert Oehninger. Insbesondere wenn die Assistentinnen und Assistenten Überstunden machen, wird es knapp mit dem monatlichen Budget. Er hat den Anspruch, seine Angestellten mit nicht weniger als 19 Franken pro Stunde zu entlöhnen, weil er auch als Arbeitgeber attraktiv und fair sein möchte. Ein schwieriges Unterfangen, das nicht immer nur mit dem Assistenzbeitrag finanziert werden könne. Teilweise werde es zur Mischrechnung zwischen den Geldquellen. Zudem sei das Geld des Assistenzbeitrages schon verspätet angekommen. «In diesen Fällen muss ich von meinem Erspartem abschöpfen und vorschiessen». 

Fast zwanzig Prozent der Bevölkerung betroffen

Die finanziellen und administrativen Herausforderungen können nicht alle Betroffenen verkraften. Wie das Bundesamt für Statistik im Jahr 2021 ermittelte, leben in der Schweiz über eineinhalb Millionen Menschen über 16 Jahren mit einer Behinderung. Etwas mehr als ein Fünftel davon mit einer starken Beeinträchtigung. Die grosse Mehrheit wohnt bei Angehörigen oder in betreuten Institutionen.

Für Oehninger ist es ein Privileg, selbstständig in einer eigenen Wohnung zu leben. Wie lange dies für ihn noch möglich sein wird, ist ungewiss. Seine Krankheit Dystrophie schreitet weiter voran, sodass er irgendwann auf mehr Assistenz angewiesen sein wird. Wenn die Muskeln fürs Atmen nicht mehr ausreichend sind, dürfte das Leben in seiner Wohnung schwierig werden. «Es schwebt der Gedanke herum, mich irgendwann wieder bei einer betreuten Stiftung zu bewerben und die letzten Lebensjahre dort zu verbringen», erzählt er. Es sei auch abhängig davon, ob der Assistenzbeitrag in Zukunft noch ansteigen wird oder nicht.

Für viele Menschen mit einer Behinderung ist die eigene Wohnung ein Kraftakt oder bleibt ein Traum. «May the force be with you» steht nicht umsonst auf dem Teppich vor Oehningers Wohnungstüre. Vielleicht macht er damit sich selbst und anderen Betroffenen Mut.

Eine Auswahl der Bedienungshilfen in Jan Oehningers Alltag

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Jan Oehninger bedient alle Funktionen des Rollstuhls sowie des Smartphones mit der Hand am Joystick. Der weisse Kreis auf dem Smartphone ist der Cursor. Da er seine Hände kaum bewegen kann, werden sie von einer Heizung gewärmt (schwarzes Kästchen).

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Am einfachsten ist das Schreiben für Jan Oehninger am Computer. Er bedient mit seiner rechten Hand die Maus und tippt Texte auf einer digitalen Tastatur.

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Jan Oehninger hat sich Zuhause am Esstisch eine Trink-Station mit Gläsern und Glashalmen eingerichtet, sodass er selbständig seinen Durst löschen kann. Mit dem Rollstuhl fährt er jeweils ganz nah an den Tisch.

Inklusion wird zum politischen Thema

Die Politik ist auf die bestehenden Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen aufmerksam geworden. Ein Blick auf anstehende Debatten, die den Betroffenen in verschiedenen Lebensbereichen Fortschritt versprechen.

Die Behindertenrechtskonvention der UNO, die im Jahr 2014 von 196 Staaten unterzeichnet wurde, wird im Mai dieses Jahres zehn Jahre alt. Die Länder verpflichten sich dazu, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu bekämpfen und die Inklusion voranzutreiben. Auch die Schweiz ist Teil der Vereinbarung. Die Konvention erwähnt auch den Wohnbereich namentlich und betont die freie Wahl der Wohnform.

Auszug aus der Behindertenrechtskonvention der UNO

Behindertenorganisationen kritisieren schon länger, dass die Inklusion für betroffene Menschen noch nicht genug fortgeschritten ist. Die Staaten würden zu wenig nach der Konvention handeln. Die erste Behindertensession im Jahr 2023 sorgte für Aufsehen und scheint die Wahrnehmung für Menschen mit Behinderungen vergrössert zu haben. Die nationale Politik hat sich in den letzten zwölf Monaten mehrfach mit Inklusionsthemen befasst. Darunter auch der Bereich des Wohnens.

Die Wohnform selbst wählen – zu welchem Preis?

Eine Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates forderte im Januar 2024 eine Revision des Bundesgesetzes über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen, kurz IFEG. Sie verlangt die Durchsetzung der «verfassungsrechtlich garantierten Niederlassungsfreiheit». Menschen mit Behinderungen seien «faktisch gezwungen» in einem Heim zu wohnen, weil die ambulanten Unterstützungsangebote fehlen. Die Gegner der Motion, darunter SVP-Nationalrat Andreas Glarner, machen sich Sorgen betreffend die Kosten: «Wir müssen diesen gut gemeinten, grundsätzlich auch unserem Wunsch entsprechenden Vorstoss ablehnen, weil er letztlich unbezahlbar ist», so Glarner in seinem Votum im Nationalrat. Es sei mit Kosten zu rechnen, die man aktuell noch nicht erfassen könne. In der Frühjahrssession 2024 stimmte der Nationalrat mit 128 Ja-Stimmen für die Motion. Der Vorstoss wird nun dem Ständerat zur Abstimmung vorgelegt.

Inclusion handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, begrüsste damals den Entscheid des Nationalrats und forderte am 7. März 2024 in einer Medienmitteilung, dass der Ständerat den «eingeschlagenen Weg konsequent weitergeht». Für Betroffene sei es wichtig, dass Kantone ihre Rechtsgrundlagen vereinzelt anpassen, dennoch brauche es ein «verbindliches Rahmengesetz auf nationaler Ebene».  

Eine Initiative will mehr

Um politisch noch mehr Druck aufzubauen, wurde im Frühling 2023 die «Inklusions-Initiative» lanciert. Der Initiativtext fordert mit einer Verfassungsänderung die Durchsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der Lebensbereich des Wohnens steht dabei explizit ausgeschrieben. Die Initiative befindet sich zurzeit im Sammelstadium – es bleiben noch etwas mehr als fünf Monate, um die erforderlichen Unterschriften einzureichen. Über die Anzahl der bereits gesammelten Unterschriften hält sich das Initiativkomitee auf der Website bedeckt. Die Initiative wird von zahlreichen Verbänden getragen und von Politikerinnen und Politikern unterstützt. Darunter sind auch Grüne-Ständerätin Maja Graf oder Mitte-Nationalrat Christian Lohr. Letzterer ist selbst von einer Behinderung betroffen.