Wie vereinen queere Muslim*innen ihre sexuelle Orientierung mit ihrem Glauben? Olcay Miyanyedi und Sheuaz Aras Hussein teilen ihre persönlichen Geschichten über die Balance zwischen ihrer Homosexualität und ihrer Religion.

Autorin: Ütopya Kara
Titelbild
: Olcay Miyanyedi (links) und Sheuaz Aras Hussein (rechts) haben einen Weg gefunden ihre sexuelle Orientierung und ihren Glauben zu vereinen.
Urheberin Collage: Ütopya Kara
Quelle Material Collage:
Bild Olcay Miyanyedi: Eibner/Roger Bürke
Bild Sheuaz Aras Hussein: Ütopya Kara
Koran: Ali Burhan / Unsplash
Regenbogenfahne: Getty Images
Schild Allah Loves Equality: X / @RadioGenoa
Gebetsteppich: eBay
Silhouette betender Mann: Reuters / Ibraheem Abu Mustafa
Minarett: mapio.net
Symbole und Schriftzüge: Canva

In einem schlicht eingerichteten Büro in Böblingen, Baden-Württemberg, nimmt Olcay Miyanyedi am Zoom-Interview teil. Um den 39-jährigen Islamwissenschaftler stapeln sich Bücher über Religion und Philosophie. Als Büroleiter eines Wahlkreisbüros sowie Vertreter der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg ist er ein bekanntes Gesicht auf der politischen Bühne. Doch hinter seiner lockeren Fassade verbirgt sich eine Geschichte innerer Konflikte, die viele queere Muslim*innen teilen: Die Herausforderung, sexuelle Identität und Glauben in Einklang zu bringen.

Illustration: Ütopya Kara

«Pray the gay away»

Olcay Miyanyedis Weg zur Akzeptanz seiner Sexualität verlief nicht geradlinig. Sein Islamwissenschaftsstudium an der Goethe-Universität begann er, um seine Homosexualität zu überwinden. «Ich bin tief in meine Religion eingetaucht, in der Hoffnung, mich selbst zu heilen, nach dem Prinzip ‹pray the gay away›», sagt er. Sich seine Homosexualität einzugestehen, war für ihn undenkbar. Doch die Versuche, seine Sexualität «wegzubeten», zeigten keine Wirkung. Auch nach einer Pilgerfahrt nach Mekka blieb seine Sexualität unverändert. Mit 25 Jahren fasste Miyanyedi den Entschluss: Die Homosexualität ist ein Teil von ihm. Er beschloss, sich zu outen.

Vor allem Miyanyedis Mutter traf die Enthüllung hart: «Sie fragte sich, ob sie in ihrer Erziehung etwas falsch gemacht hatte», erinnert er sich. Sein Vater hingegen nahm die Nachricht überraschend gelassen auf: «Er sagte, er rede ja auch nicht mit meinem heterosexuellen Bruder über seine Beziehungen, warum also mit mir?» Spannend fand er, dass seine Eltern nie mit dem Argument kamen, dass er in der Hölle verbrennen würde – ein Argument, das im Islam oft in Bezug auf Homosexualität verwendet werde. Vielmehr sorgten sie sich darum, was Menschen über ihn sagen würden. Sie hatten Angst, dass er ohne Frau und Kind allein sterben würde. «Diese Sorgen konnte ich einigermassen nachvollziehen», sagt er. Heute wird seine Sexualität innerhalb der Familie nicht mehr thematisiert. «Nicht alle verstehen es, aber sie akzeptieren mich.»

Islam und Homosexualität – (k)ein Widerspruch?

Seine Beziehung zu Allah vergleicht Miyanyedi mit einer Achterbahn. Während des Studiums hatte er eine enge Beziehung zu Allah. Nach seinem Outing wollte er nichts mehr mit dem Islam zu tun haben. «Ich habe von vielen Seiten gehört, dass meine Sexualität im Islam ‹haram›, also eine Sünde sei. Darum habe ich mich davon distanziert.» Aber so wie er seine Sexualität nicht ändern konnte, konnte er auch seinen Glauben an Allah nicht ablegen. «Das Schöne war, dass meine Beziehung zu Gott von mir selbst kam.» Islam und Homosexualität gehören gleichermassen zu Miyanyedi und er habe lernen müssen, dass das eine das andere nicht ausschliesse. «Ich wollte Gott verlassen, aber Gott hat mich nie gehen lassen.»

Eine ähnliche Entdeckung machte auch der 24-jährige Berner Sheuaz Aras Hussein. Mit 18 Jahren outete er sich vor seiner Familie und mit 20 fand er zum Islam. Im Videoporträt berichtet er von den Herausforderungen und Freuden seines Lebens als gläubiger Muslim und offen homosexueller Mann.

Illustration: Ütopya Kara

Sichere Räume schaffen

«Es gab kaum Anlaufstellen für LGBTQIA+-Muslim*innen. Ich habe mich oft allein gefühlt», sagt Miyanyedi. Diese Erfahrung motiviert ihn, sich aktiv für beide Gemeinschaften einzusetzen. «Es ist wichtig, mehr Plattformen und sichere Räume zu schaffen, in denen queere Muslim*innen Unterstützung finden können, ohne angefeindet zu werden.» In der Schweiz gibt es keine Organisation, die sich spezifisch den Fragen und Bedürfnissen von queeren Muslim*innen annimmt. «Es müsste auf jeden Fall mehr queer-muslimische Organisationen geben», sagt der 39-Jährige. 2021 wurde in Zürich der Verein «Al Rahman» gegründet. Dieser bezieht auch queere Menschen mit ein, setzt sich aber nicht primär öffentlich für deren Rechte ein.

Anlaufstellen für LGBTQIA+-Personen und/oder Muslim*innen in der Schweiz

Auch wenn es in der Schweiz keine Organisation gibt, die sich spezifisch den Fragen und Bedürfnissen von queeren Muslim*innen annimmt, gibt es folgende Anlaufstellen:

LGBTQIA+ Anlaufstellen:
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Du-bist-du.ch
Transgender Network Switzerland
InterAction

Muslimische Anlaufstellen:
Muslimische Seelsorge Zürich, Tel. 043 205 21 29
Verein Al Rahman

Infobox: erstellt von Ütopya Kara

Leben mit Ablehnung und Akzeptanz

Auch wenn seine Familie seine Homosexualität akzeptiert hat: Im islamischen Umfeld ist sie noch lange nicht die Norm. Ein besonders traumatisches Erlebnis sei eine Predigt gewesen, in der ein Imam Homosexuelle verurteilte. «Ich sass da und wollte nicht mehr mitbeten», erzählt Miyanyedi. Negative Kommentare aus der religiösen Ecke wie ‹Gott will das nicht, das ist eine Sünde› höre er oft.

Er weist darauf hin, dass sich der Koran an einigen Stellen auf sehr spezifische Situationen beziehe. Es sei naiv, diese Stellen eins zu eins auf heute zu übertragen. Während universelle Botschaften wie das Gebet, das Fasten und die Aufforderung, ein guter Mensch zu sein, zeitlos seien, müssten bestimmte Aspekte wie die Paarbeziehung weitergedacht und an die heutige Zeit angepasst werden.

«Natürlich gab es negative Erfahrungen, aber ich habe auch viel Liebe von der muslimischen Gemeinschaft erfahren», fügt er hinzu. Gerne erinnert er sich an einen Kommilitonen, der zu ihm sagte: «Du bist Gottes Schöpfung und gut so, wie du bist. Du darfst dein Leben und deine Sexualität genauso leben wie ich.»

Europa als Vorreiter

Miyanyedi ist optimistisch, was die Zukunft der LGBTQIA+-Muslim*innen angeht. Vor allem in Europa, wo die muslimische Community eine Minderheit darstellt, sieht er grosses Potenzial für Fortschritte. «In Europa gibt es mehr Freiheiten und einen stärkeren Fokus auf Inklusion», erklärt der Islamwissenschaftler. «Das macht es für LGBTQIA+-Muslim*innen leichter, Unterstützung und Solidarität zu finden.» Er betont, dass die Bewegungen in Europa oft Vorreiterrollen einnehmen und durch ihre Arbeit Bewusstsein schaffen. Er ist überzeugt, dass mit der Zeit auch die restliche Welt reagieren muss. «Die Fortschritte in Europa können als Modell dienen und Druck auf muslimische Gemeinschaften weltweit ausüben, ihre Einstellungen und Gesetze anzupassen.»

Olcay Miyanyedi möchte queere Muslim*innen weiterhin motivieren, ihrem eigenen Herzen zu folgen und sich mit verschiedenen Quellen auseinanderzusetzen. «Wer sich wirklich mit dem Islam befasst, wird feststellen: Es gibt Wege, alle Identitäten in Einklang zu bringen.»


«Der Koran wurde von Männern übersetzt und interpretiert»

Islamwissenschaftler Olcay Miyanyedi findet, dass viele Aspekte des Korans nicht einfach auf moderne Gesellschaften übertragen werden können – und das betrifft nicht nur queere Themen. In den folgenden Passagen analysiert er drei ausgewählte Kapitel (Sure) des Korans.

Der Koran ist die zentrale heilige Schrift des Islams – aber wie werden seine Lehren in der modernen Gesellschaft interpretiert? (Bild: Ütopya Kara)

Die Interpretation der Verse stammt von Olcay Miyanyedi. Das Interview wurde von Ütopya Kara geführt und transkribiert.

Herr Miyanyedi, wie sehen Sie die Rolle des Korans in Bezug auf die heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Normen? Nennen Sie uns einige Beispiele.

M: «Ich bin fest davon überzeugt, dass die Texte im Koran uns eine Botschaft übermitteln. Allah hat uns alle mit Verstand ausgestattet und vertraut darauf, dass wir seine Botschaften verstehen sowie umsetzen. Bestimmte Sexualnormen, Beziehungsnormen und auch Lebensnormen sind heute nicht unbedingt relevant. Es ist wichtig zu bedenken, dass Frauen früher keinen Zugang zu Bildung oder den heiligen Schriften hatten. Vieles wurde von Männern übersetzt und interpretiert.»

Die Geschichte von Lot

M: «Menschen nehmen gerne die Lot-Geschichte als Grundlage, um Homosexualität als Sünde zu betrachten. Die Koran-Geschichte über den Propheten Lot erzählt, dass er zu seinem Volk geschickt wurde, das homosexuelle Handlungen praktizierte. Trotz seiner Warnungen weigerten sie sich, auf ihn zu hören. Am Ende bestrafte Gott das Volk von Lot und zerstörte ihre Stadt.»

«Und wir sandten Lot. Damals, als er zu seinem Volke sprach: ‚Wollt ihr denn eine solche Abscheulichkeit begehen, worin noch niemand von den Weltbewohnern euch zuvorkam? Siehe, aus Lust verkehrt ihr mit den Männern statt mit Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das es zu weit treibt.» (Sure 7:80-81)

M: «Diese Geschichte hat wenig mit der heutigen Lebensrealität von Homosexuellen zu tun. In der Lot-Erzählung des Korans werden vor allem das sexuelle Verlangen und die Begierde betont, nicht jedoch die Idee der Liebe. Lots Volk wird für ihre homosexuellen Handlungen, die von Lust und Begierde motiviert sind, bestraft. Es fällt auf, dass sich die Verurteilung hierbei ausschliesslich auf homosexuelle Handlungen zwischen Männern bezieht und nicht auf Frauen. Dies wirft Fragen bezüglich der Interpretation durch Männer auf.»

Krieg

M: «Gemäss dem Koran ist Krieg nur erlaubt, um sich zu verteidigen.»

«Und rüstet gegen sie, was ihr an Streitkräften und an Pferden aufbieten könnt, um dadurch den Feind Allahs und euren Feind und andere ausser ihnen, die ihr nicht kennt – Allah kennt sie (jedoch) – abzuschrecken. Und was ihr auf dem Weg Allahs ausgebt, wird euch voll zurückerstattet werden, und es wird euch kein Unrecht zugefügt.» (Sure 8:60)

M: «Früher zog man in den Krieg mit Pferden. Heute, wenn jemand mit Flugzeugen und Bomben angreift, zieht niemand mit einem Pferd in den Krieg. Das Pferd steht hier symbolisch für die Transportmittel und Ressourcen für den Krieg.»

Jungfräulichkeit und Sanktionen der Frauen

«Und kommt der Unzucht nicht nahe; gewiss, sie ist eine Schändlichkeit und übler Weg.»(Sure 17:32)

M: «Es ist paradox, dass die Jungfräulichkeit bis zur Ehe für Frauen und Männer gilt, aber viele muslimische Länder strenge Sanktionen gegenüber Frauen verhängen, teilweise sogar die Todesstrafe. Währenddessen werden Männer nicht in gleicher Weise bestraft. Wenn es so wichtig ist, warum gibt es diese Unterschiede?»

M: «Die Sanktionen gegenüber Frauen sollen sie kontrollieren, während Männer gesellschaftlich viele Freiheiten geniessen. Das ist nicht ein Beispiel der Religion, sondern ein Beispiel für die Männerdominanz und Patriarchat. Der Koran spricht nicht spezifisch Männer oder Frauen an, sondern alle.»