Jeder fünfte Mensch ist hochsensitiv. Wem bewusst ist, dass er*sie hochsensitiv ist, kann sein Leben entsprechend gestalten. Wer es nicht weiss, leidet womöglich unnötig und ohne zu wissen warum. Eine Einführung in die Welt der Hochsensitiven.

Autorin: Leslie Rathgeb
Titelbild: Die hochsensible Orchidee – Sie steht sinnbildlich für die 30% der Menschen, die hochsensitiv sind; Bildquelle: Leslie Rathgeb

Kürzlich auf der Arbeit hielten Laura und ihre Kollegin in Lauras Büro einen Schwatz ab, der in lautem Gelächter endete. Sekunden nach dem Freudenausbruch wurde die Tür abrupt von aussen geschlossen. Laura erschrickt. Waren sie zu laut gewesen? War das Lachen am Arbeitsplatz während der Arbeitszeit unangebracht? Ist der Chef nun wütend? Soll sie ihn nachher darauf ansprechen? Die Kollegin plappert in der Zwischenzeit munter weiter. Zwei, drei Minuten später öffnet sich die Tür nochmals und der Chef verabschiedet sich, um an eine Konferenz zu gehen. Laura fällt ein Stein vom Herzen. Der Chef hat die Tür zugemacht, um sich umzuziehen. Und nichts weiter.

Dieses Beispiel kann eine typische Situation für hochsensible Menschen sein. Während die einen (wie hier Lauras Arbeitskollegin) sich in so einem solchen Moment nichts weiter dabei denken, ihn vielleicht nicht einmal richtig wahrnehmen, grübeln die Hochsensitiven schon nach Sekunden vor sich hin. Und vielleicht noch wochenlang.

Das Umfeld trägt stark zum (Un-)Wohlsein bei

Bevor die 26-jährige Laura ihren Bürojob in Zürich antrat, war sie Flugbegleiterin. Ein Job, der sehr Energie zehrend ist, auch für nicht hochsensitive Menschen. Inzwischen fragt sich Laura, wie sie das überhaupt ausgehalten hat und würde sich solche Arbeitsbedingungen nicht mehr zumuten. Immer unterwegs, keine Rückzugsorte, wo sie sich entspannen und wieder Energie tanken könnte und auf Langstreckenflügen während Stunden eine gutgelaunte Ansprechperson sein – das sei sehr anstrengend gewesen. Der Wechsel von den luftigen Höhen, runter ins Büro, habe enorm zu ihrem Wohlbefinden beigetragen. Nun hat sie ein eigenes Büro, in dem sie in Ruhe arbeiten und in ihrer Mittagspause kurz austreten kann, um einen Spaziergang im Grünen zu machen. Seit Laura weiss, dass sie hochsensibel ist, hat sie einige Dinge in ihrem Leben verändert – nicht nur den Beruf. Sie hat sich zum Beispiel angewöhnt, bereits um sechs Uhr morgens aufzustehen. Sie macht sich dann erst mal einen Tee und liest ein Buch auf dem Balkon oder hört Affirmationen. «Der ruhige, langsame Start am Morgen hilft, die Weichen für den Tag zu stellen,» sagt Laura. Auch regelmässiges Yoga und Meditation helfen ihr dabei, herunterzufahren oder die innere Ruhe zu wahren. Entspannende Musik zu hören sei ebenfalls eine gute Methode, um nach einem anstrengenden Tag herunterzukommen. Doch in Momenten, in denen ihr der Kopf schwirrt, weil sie etwas sehr beschäftigt, greift die Zürcherin lieber zu lauter, wilder Musik, um sich vom Gedankenkarussel abzulenken.

Hochsensitivität lässt sich nicht einfach abschalten

Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern Teil der Persönlichkeit. Woher diese Hochsensitivität im Menschen genau kommt, darüber streiten sich die Forschenden noch, berichtete Psychologie Heute. Wie viele Menschen auf der Welt von Hochsensitivität betroffen sind? Darin unterscheiden sich die Forschungsergebnisse. Wobei die Zahlen aber jeweils nicht sehr weit auseinander liegen. Sensitivity Research schreibt auf ihrer Website, dass etwa 30 % der Menschen hochsensibel sind. Sie schreiben ausserdem, dass empirische Studien nicht klar darauf hindeuten, dass zum Beispiel Männer oder Frauen häufiger betroffen seien. Das gilt auch für andere Merkmale wie Alter oder Herkunft. Wer hochsensitiv ist, war das schon immer. Der hochsensible Mensch spürt seine Sensitivität möglicherweise nicht immer gleich stark. Ein Beispiel: Eine hochsensitive Person, die von der Stadt aufs Land zieht, findet dort in der Regel besser zur Ruhe. Das heisst aber nicht, dass sie jetzt aufs Mal weniger hochsensitiv ist. Die Umstände sind schlicht andere. In der ländlichen Gegend ist der hochsensitive Mensch weniger Reizen ausgesetzt, die er verarbeiten muss. Keine lärmige Tram, weniger Sirenengeheul und kein hektisches Herumwuseln von tausenden von Leuten, die sich tagtäglich in der Stadt tummeln. Entfallen solche Reize, kommt es eher nicht zu einer Überstimulation. So wie bei Laura, deren Leben sich sehr viel angenehmer gestaltet, seit sie vom geschäftigen Alltag als Flugbegleiterin zum gemächlicheren Alltag der Büroangestellten gewechselt hat. Aber eben, sie ist noch immer gleich sensitiv wie zuvor.

Verzichten oder nicht verzichten? Das ist hier die Frage

Doch was, wenn der hochsensitive Mensch ganz gerne in der Stadt lebt, auf Partys geht und mit Freund*innen am Samstag an der Bahnhofstrasse bummeln gehen möchte? Hochsensitivität hindert einen nicht daran. Es ist aber tatsächlich so, dass hochsensitive Menschen dabei schneller an ihre Grenzen stossen und danach viel erschöpfter sind als nicht hochsensitive Menschen. Es kommt auch vor, dass hochsensible Menschen Hobbys zugunsten von Ruhephasen aufgeben müssen. Oder irgendwann aufhören, an grösseren Veranstaltungen, wie Messen oder Festivals mit hohen Besuchendenzahlen teilzunehmen, weil sie nach vielen Besuchen feststellen, dass es für sie immer anstrengend sein wird, sich all diesen Reizen auszusetzen. Auf jeden Event muss und will der hochsensitive Mensch aber in der Regel nicht verzichten. Viele kommen aufgrund ihrer Erfahrung irgendwann zum Schluss, dass sie genau abwägen müssen, wie viel Energie sie haben und wie viel sie sich zumuten können. Aufs «dabei sein» zu verzichten sei schwierig, sagt Laura. «Es ist ja nicht so, dass man nicht dabei sein will. Es ist manchmal einfach zu viel.» Es kann sich lohnen, Hilfe anzunehmen.

Hochsensitivität erkennen und lernen, damit umzugehen

Hochsensitivität oder Hochsensibilität? Gemeint ist das Gleiche. Doch was genau bedeutet es eigentlich? Nicoll Rietmann ist Psychologin und Coachin aus Zürich und befasst sich seit 4 Jahren vertieft mit Hochsensibilität. Das Ziel der 54-Jährigen ist es, ihr Gegenüber zu fördern und dabei zu helfen, die Hochsensibilität als Geschenk zu sehen.

Audiobeitrag: Leslie Rathgeb

Hochsensitivität: Ein intensiveres Empfinden und vertieftes Verarbeiten von Reizen. Der hochsensible Mensch fühlt sich damit oft anders als die Anderen. Immer wieder, werden Hochsensitive mit Sätzen wie: „Was hast du jetzt denn wieder?“, oder „Sei mal nicht immer so empfindlich!“, konfrontiert. Schön wäre es, wenn aus dem Freund*innenkreis, von Partner*innen, der Familie und beim Arbeitsplatz und in der Schule mehr Offenheit und Verständnis gegenüber den Bedürfnissen von Hochsensitiven gezeigt würde, sagt Rietmann. Auch Laura findet das wichtig und ist froh, dass ihr Umfeld sehr unterstützend ist.

In den Schuhen einer Hochsensitiven

Video: Leslie Rathgeb

Die Blumen Metapher – Was braucht der Mensch, um aufzublühen?

Psycholog*innen der Universität Chieti-Pescara definierten einst drei Typen Mensch und verteilte diese auf drei Sorten Blumen, wie in ihrem Artikel auf Translation Psychiatry beschrieben. Die einen Blumen reagieren mehr und die anderen weniger empfindlich auf ihre Umweltbedingungen. Die Verteilung, laut Veröffentlichung der Universität Chieti-Pescara, ist in den folgenden Grafiken zu finden.

Grafik: Leslie Rathgeb

Robuster Löwenzahn

Löwenzahn gedeiht auch unter schwierigen Bedingungen. Da bräuchte schon einen Schneesturm, um der robusten Blume etwas anzuhaben. Trifft auf 29 % der Menschen zu.

Durchschnittlich sensible Tulpe

Die Tulpe ist weder speziell robust noch sehr sensibel. Sie stellt mit 40 % den Durchschnitt der Menschen dar.

Grafik: Leslie Rathgeb
Grafik: Leslie Rathgeb

Hochsensible Orchidee

Die Orchidee reagiert sehr sensibel auf ihr Umfeld. Nur unter idealen Umweltbedingungen kann sie aufblühen. 31 % der Menschen gelten als hochsensibel.

Du willst wissen, welche Blume du bist?

Finde mit diesem HSP-Test (Highly-Sensitive-Person-Test) heraus, ob du womöglich zu den hochsensiblen Orchideen gehörst.

Für alle, die noch mehr über Hochsensibilität wissen wollen

Hier geht’s zum Beziehungskosmos Podcast zum Thema Hochsensibilität