Aktuell treten viele Leute aus der reformierten und katholischen Kirche aus. Trotz der steigenden Zahl an Konfessionslosen in der Schweiz finden einige Menschen nach wie vor ihren Weg in die Kirche. Wer sind die Menschen, welche heute noch einer Kirche beitreten und was bewegt sie dazu?

Désirée Sauter
Bild: Katholische Kirche Stadt Zug, Quelle: stock.adobe.com, Künstlerin: tatiana


Die hohen Austrittszahlen der katholischen und reformierten Kirche der Schweiz sorgten in den letzten Jahren zunehmend für Gesprächsstoff. Laut Statistiken des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) sind im Jahr 2022 schweizweit 30’102 Menschen aus der reformierten und 34’561 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Betrachtet man die Vorjahre, so bewegen sich die Austrittszahlen in einem ähnlichen Rahmen – Tendenz steigend.

Diese Zahlen werfen Fragen über die Zukunft der Kirche und deren Mitglieder auf: Welche Rolle spielt die Kirche heute? Wer tritt noch in eine ein?

Das SPI verzeichnet in seinen Statistiken im Jahr 2022 gesamtschweizerisch 1‘565 Eintritte in die reformierte und 1‘080 Eintritte in die katholische Kirche. Im Verhältnis bedeutet das für die katholische Kirche, dass pro Gruppe von 32 Austretenden nur eine Person eintritt. Bei der reformierten Kirche bedeutet es ein Verhältnis von 19:1.

Aus der Sicht von Silvio Liesch, theologischer Geschäftsführer des Zentrums für Kirchentwicklung der Universität Zürich, sind die Zahlen beunruhigend für die Kirche. Als Beschleuniger für die Austritte nennt Liesch unter anderem die Publizierung der Missbrauchsstudien über die katholische Kirche. Liesch zieht einen Vergleich: Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) ist eine klare Zunahme der Religionslosigkeit in der Schweiz festzustellen. Während im Jahr 1970 gerade mal 1,2% der Bevölkerung angaben, keiner Religion anzugehören, sind es im Jahr 2022 bereits 34% der Bevölkerung. Es stelle sich hier aber die Frage, ob die Menschen wirklich weniger religiös oder spirituell sind. Denn wer beispielsweise kein Christ auf dem Papier sei, könne es ja trotzdem im Leben sein und umgekehrt. Für Liesch ist klar: «Es ist ein Statement, wenn heutzutage Leute in die Kirche eintreten».

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Silvio Liesch, Geschäftsführer ZKE

Silvio Liesch ist ordinierter, reformierter Pfarrer
mit Erfahrung in der Gefängnis-Seelsorge.
Seit Januar 2024 ist er theologischer Geschäftsführer am Zentrum für Kirchenentwicklung (ZKE) an der theologischen
und religionswissenschaftlichen Fakultät, Universität Zürich.
Das ZKE ist eine Schnittstelle zwischen kirchlicher Praxis und kirchlicher Entwicklung und ist zuständig für die wissenschaftlich theologische Deutung dessen.

Welche Relevanz hat die Kirche heute?

Religion in institutioneller Form nimmt laut Liesch in unseren Breitengraden massiv ab. «Die Kirche wird heute nicht mehr als selbstverständliche Wegbegleiterin erlebt, wie das vor ein paar Jahrzehnten noch der Fall war», so Liesch. Zu beachten seien jedoch prägende Momente oder biografische Übergänge im Leben, wie eine Taufe, die Konfirmation oder Hochzeit, sowie Krankheit und Tod. In solchen Momenten, meint Liesch, sind Menschen nach wie vor offen und ansprechbar für religiöse Fragen und die Kirche. Für einige von ihnen ist die Kirche nach wie vor sehr zentral im Leben.  
So auch für eine pensionierte Frau, welche wieder in die katholische Kirche eingetreten ist.

«Viele treten jetzt aus und ich mache gerade das Gegenteil.» 

Sie wuchs römisch-katholisch auf und war ihr Leben lang gläubig. Später im Leben trat sie aus der katholischen Kirche aus, um mit dem Geld für die Kirchensteuer anderen Menschen zu helfen. Nora Schmitt* aus der Region Schaffhausen erzählt, wie sie nach einer Krankheitsdiagnose wieder in die katholische Kirche eingetreten ist. (Name zur Anonymisierung geändert) 

Wie kam es dazu, dass Sie wieder in die katholische Kirche eingetreten sind? 
«Als ich die Diagnose meiner Krankheit erhalten hatte, war für mich klar, dass ich wieder in die Kirche gehen möchte. Ich habe mir gedacht, es kann mir nur noch einer helfen und das ist der da oben. Ich hatte das Gefühl, dass ich noch ein paar Missionen in meinem Leben zu erfüllen habe und dafür brauche ich diese Hilfe von oben. Deshalb gehe ich wieder in die Kirche und glaube fest daran.» 

Was sprach denn konkret dafür? 
«Ich bin ja Hebamme, deshalb glaube ich an den Grundsatz «Mit Würde auf die Welt kommen und mit Würde wieder gehen». Ich wünsche mir eine würdevolle Beerdigung in der Kirche, in der ich getauft wurde. Dazu kommt, dass ich die Krankensalbung der katholischen Kirche wollte, welche ich dann auch erhalten habe. Durch meine Krankheit wurde ich so sehr mit dem Tod konfrontiert. Deshalb wollte ich das.» 

Sie haben also nicht lange gezögert, wieder in die katholische Kirche einzutreten? 
«Ich habe immer etwas daran rumüberlegt, dass ich gerne wieder zur Kirche gehören möchte. Es ist nicht ein Verein, sondern man ist ein Mitglied. Es gibt überall Menschen, für die eine solche Mitgliedschaft nicht funktioniert, aber ich denke das gibt es in jeder Gemeinschaft.» 

Wenn Sie an die vielen Kritikpunkte und Vorwürfe denken, welche sich aktuell gegen die katholische Kirche richten: Macht das etwas mit dem Bild, das Sie von ihr haben? 
«Nein. Ich denke, dass es wunderbare Menschen sind, welche in der Kirche mitwirken. Man kann nicht einfach verallgemeinern. Ich denke, das gab es schon immer, so lange wie es eben schon Menschen auf der Welt gibt. Klar, es ist viel passiert in der katholischen Kirche, was nicht hätte passieren sollen. Wenn Nächstenliebe und Ehrlichkeit gepredigt werden, aber das dann missbraucht wird, ist das sicher nicht richtig.» 

Wissen die Menschen aus Ihrem Umfeld, dass Sie wieder in die katholische Kirche eigetreten sind? Wenn ja, wie fielen die Reaktionen darauf aus?

«Inzwischen habe ich das den Leuten in meinem Umfeld kommuniziert. Die meisten haben sich ganz neutral verhalten, das fand ich noch gut. Sie kennen mich ja auch und wissen genau, dass immer alles etwas anders mache als andere Menschen. Viele treten jetzt aus und ich mache gerade das Gegenteil. Das passt mir jetzt.» 

Was wünschen Sie sich von der katholischen Kirche für die Zukunft? 
«Ich denke, sie sollte offener sein. Als ich vor zwei Jahren in Ecuador war und dort eine Kirche besuchte, war das ganz anders. Dort waren junge Leute in der Kirche und man wurde von der Musik richtig mitgerissen. Das wünsche ich mir auch für die Kirche hier in der Schweiz. Die Inhalte sollen aus dem Leben herauskommen und die Kirche soll mehr auf junge Menschen zugehen und Bewegung reinbringen. Und ich denke, das mit dem Zölibat für die Priester könnte man auch etwas lockerer nehmen. Die Kirche soll zugänglicher werden. Nur so, denke ich, kann man gerade junge Menschen wieder gewinnen.» 


Interview mit Paola Tresch

Die Gründe, welche heutzutage für einen Kirchenbeitritt sprechen, bleiben wohl eine persönliche Angelegenheit. Paola Tresch aus Schaffhausen ist vor nicht allzu langer Zeit in die reformierte Kirche eingetreten. Im Interview erzählt sie, was sie dazu bewegt hat.

Video-Beitrag mit Bild, Schnitt und Moderation von Désirée Sauter

Junge Menschen und die Kirche

Auch für Liesch ist es wichtig, dass junge Menschen in der Kirche Platz finden. «Ich frage oft ironisch, ob es ein Leben nach der Konfirmation gibt», meint Liesch. Denn oftmals befinde sich die Kirche in zwei Extremen. Entweder werden die Jugendlichen gar nicht wahrgenommen oder angesprochen, oder es wird so sehr probiert, Programme auf sie anzupassen, dass es schon fast aufgesetzt oder künstlich wirkt.
Lieschs Devise ist hier deshalb, dass die Kirche wegkommt von einer Angebotsmentalität hin zu einer Ermöglichungsmentalität. Junge Menschen könnten durch Mitgestaltung und Partizipation eine Plattform und damit mehr Raum in der Kirche erhalten.

Eine Kirche der Gemeinschaft

«Ich wünsche mir für die Zukunft eine Kirche, in der Gemeinschaft über gesellschaftliche Grenzen hinaus gelebt wird», so Liesch. Das bedeutet für den Theologen, dass Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und aus verschiedenen sozialen Schichten in der Kirche zusammenkommen sollen. Das rituelle Reservoir der Kirche sei schliesslich nicht das Alleinstellungsmerkmal der Kirche, sondern dass sie sich für die Menschen einsetzt und sich nicht nur um sich selbst drehen sollte.



“Die Kirche sollte sich fragen, ob sie selbst auch
einen Kirchenaustritt nötig hätte.“

Silvio Liesch, ZKE

Denn, anstatt den sorgenden Blick auf sich selbst zu richten, sollte sich die Kirche gemäss Liesch viel mehr Sorgen um ihre Umwelt, Quartiere und die Menschen machen, welche überhört werden. Wenn die Kirche dort ist, meint Liesch, kommt sie wieder zu sich selbst zurück und bleibt am Puls des Lebens. Sie soll selbst einen Schritt aus der Kirche in die Welt hineinmachen.

Ist die Kirche bereit für Veränderung?

Laut Liesch ist die Bereitschaft für Veränderung in der Kirche an vielen Orten da. Jedoch fehlt teilweise der Mut, sich auf unsicheres Terrain zu begeben. Oder anders gesagt, es fehlt an Hoffnung und kreativen Ideen für Umbruch in der Kirche.

An einigen Orten jedoch, findet diese Veränderung in der Kirchenlandschaft bereits statt. Ein Beispiel dafür ist ein Projekt der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn namens «Kirchen in Bewegung». Das Projekt bringt Menschen mit Ideen für die Kirche zusammen und hilft, diese umzusetzen. Dazu gehören beispielsweise ein zweitägiges Repair-Café in Busswil BE, ein Spaniencamp für Einelternfamilien und ein altes Pfarrhaus, welches in eine Kaffeebar mit Coworking-Möglichkeiten umgewandelt wurde.

Des Weiteren ist gemäss Liesch das Bespielen von digitalen Formaten durch die Kirche entscheidend. Auch hier geht es darum, dass sich die Kirche dort aufhält, wo die Menschen sind. Dazu gehören eben soziale Medien und der digitale Raum.

Abschliessend muss sich die Kirche laut Liesch eine Frage stellen:
«Wer wollen wir sein in einer Welt, die sich ja auch ständig verändert?»