Die Notrufzentrale, ein Ort, der Leben rettet, oft unbemerkt und im Verborgenen. Doch für Remo Degani, Einsatzdisponent beim Notruf 144 in St.Gallen, ist dies kein gewöhnlicher Arbeitsplatz – es ist sein Reich der schnellen Entscheidungen und lebensrettenden Anweisungen. Ein Blick hinter die Kulissen offenbart die Herausforderungen und den Alltag eines Helden am Telefon.
Autorin: Katinka Graf
Bildunterschrift: Fünf Bildschirme und ein Telefon, mehr braucht Remo Degani nicht, um Leben zu retten.(Bild: Katinka Graf)
«Haben sie den Defibrillator? Ist sie in der Rückenlage?», so tönt es bei Remo Degani am Telefon. Er ist Einsatzdisponent beim Notruf 144 in St.Gallen. «Die grösste Herausforderung ist meistens herauszufinden, wo sich die Leute befinden», sagt Degani, während er seinen Blick über die Monitore der Notrufzentrale schweifen lässt. «Es ist nicht immer klar, wo der genaue Einsatzort ist.» In einem Beruf, in dem jede Sekunde zählt, ist diese Unklarheit nicht nur eine Nuance – sie ist ein Hindernis, das über Leben und Tod entscheiden kann. «Das Erschwert die Arbeit. Wir können dann nur bedingt die Einsatzmittel in die richtige Richtung schicken.»
Die Intuition des Profis
Die Entscheidung darüber, welche Einsatzwagen benötigt werden, ist keine leichte Aufgabe. «Das Bauchgefühl kann helfen», sagt der diplomierte Rettungssanitäter. Seine langjährige Erfahrung habe ihm gezeigt, dass diese innere Stimme oft richtig liegt. Seit 12 Jahren ist Degani als Disponent im Einsatz. «Wenn du am Hörer an den Notarzt denkst, dann schick ihn auch», fügt der 52-Jährige hinzu. Es ist diese Intuition, die oft den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann.
Inmitten der Hektik und der Unvorhersehbarkeit des Berufs lastet eine schwerwiegende Verantwortung auf Deganis breiten Schultern. «Wenn es um die Zeit geht und man schnell reagieren muss, damit der Patient überlebt, dann spür ich den Druck», gibt er zu. Innerhalb von 180 Sekunden muss Degani seine Kolleginnen und Kollegen vom Rettungsdienst alarmieren. Denn in 90 Prozent der lebensbedrohenden Notfälle sollen die Rettungsfahrzeuge innert 15 Minuten am Einsatzort sein, erklärt er.
Die Last der Verantwortung
Die Verantwortung, die richtigen Rettungsmittel rechtzeitig zu alarmieren, ist ein Druck, der nicht nur auf seinen Schultern lastet, sondern auch auf denen eines jeden Disponenten, der den Notruf entgegennimmt. «Vielleicht eben, weil es diese Spannung gibt, habe ich den Beruf gewählt», sagt Degani nachdenklich.
Im Audio erklärt Disponent Remo Degani, was die Last der Verantwortung mit ihm macht:

In einer Welt, die oft von Zahlen und Statistiken geprägt ist, sind es die Geschichten hinter den Notrufen, die Degani antreiben. «Die schönsten Einsätze sind meistens Geburten», sagt er. «Ich habe selbst fünf Kinder und finde das einfach schön, wenn ich am Telefon nochmals helfen kann, Kinder auf die Welt zu bringen.»
Der Kampf um jede Sekunde: Eine lebensrettende Anleitung
Die Telefone klingeln, und Degani nimmt den Anruf entgegen: «Notruf 144, Degani» Es ist eine Anruferin aus einem Fitnessstudio. Eine Person ist während des Trainings zusammengebrochen. Sofort schaltet Degani in den Krisenmodus. Noch während er die nötigen Informationen über die Patientin sammelt, alarmiert er im Hintergrund den Rettungsdienst. Während dem Telefonat hört Degani nicht nur auf die Worte der Anrufer, sondern auch auf das, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Nach nur wenigen Sekunden Gespräch weist er die Anrufende an, den Defibrillator zu holen:
Degani: Haben sie den Defibrillator?
Anruferin: Ja, den habe ich hier.
Degani: Ist sie in der Rückenlage?
Anruferin: Nein sie liegt auf der Seite. Müssen wir…
Degani: auf den Rücken!
Anruferin: Ist gut, in die Rückenlage.
Wo ist der nächste Defibrillator?
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Die Stimme der Ruhe in der Panik
Während Remo Degani am Telefon ist, vermittelt seine Stimme Ruhe aber auch Bestimmtheit. «Am Telefon wirke ich manchmal etwas schroff, gesteht er. «Das liegt daran, dass ich genaue Anweisungen geben muss, damit mich die Person auf der anderen Seite der Leitung wahrnimmt, auch wenn sie in Panik ist.» Degani hat gelernt, dass direkte Befehle oft der beste Weg sind, um die Situation zu steuern.
[Defi: «Elektroden anschliessen»]
Degani: Machen Sie den Oberkörper der Frau frei.
[Defi: «Elektrodenkontakt und Patientenanschluss überprüfen»]
[Defi: «Achtung jetzt darf niemand den Patienten berühren!»]
Degani: Alle weg vom Patienten!
[Defi: «Herzrhythmus wird ausgewertet. Kein Schock empfohlen!»]
[Defi: «Wiederbelebungsmassnahmen durchführen»]
Degani: Knien sie neben die Frau!
Legen sie beide Hände übereinander, in die Mitte des Brustkorbs, auf der Höhe der Brustwarzen.
Seine Worte sind präzise, seine Tonlage fest, aber dennoch einfühlsam. «Die meisten Anrufer sind dankbar, wenn sie klare Befehle erhalten», erklärt er. Und während er spricht, kann man die Erleichterung in den Stimmen der Anrufer spüren, die sich an seine klaren und beruhigenden Worte klammern.
Um sicherzustellen, dass die Reanimation im richtigen Tempo durgeführt wird, weist Degani die Anruferin an, bei der Herzdruckmassage laut mitzuzählen:
Degani: Jetzt drücken Sie kräftig und schnell und zählen Sie laut mit bitte!
Eins – zwei – drei – vier…
Anruferin: (synchron mit dem Disponenten) Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben – acht…
Die Uhr tickt, während Degani und die Anruferin eng zusammenarbeiten, um das Leben der Patientin zu retten. Nach etwa einer viertel Stunde in der Reanimation treffen die Rettungskräfte ein. Hiermit ist Deganis Einsatz zu Ende und er hängt den Hörer ab. «Es ist ein Moment der Erleichterung, aber auch ein Moment der Unklarheit. Manchmal, nachdem der Anruf endet, bleibt eine unangenehme Leere zurück – ein Gefühl, dass die Arbeit noch nicht getan ist, erklärt Degani. Denn wie es mit den Patienten nach dem Anruf weitergeht, erfahren sie als Disponenten nur selten.
Die Arbeit der Disponenten und Disponentinnen bleibt oft im Verborgenen. Wer einen Unfallort beobachtet, nimmt kaum wahr, dass die Personen via Telefon angeleitet werden. Dennoch erhalten auch sie positive Rückmeldungen zu ihren Einsätzen, erklärt Alexander Nied, Leiter der Sanitätsnotrufzentrale St.Gallen «Es kommt vor, dass sich Anrufende erneut bei uns melden, um sich für die klaren Anweisungen der Disponenten und Disponentinnen zu bedanken», sagt Nied. «Solche Nachrichten an mein Team weiterzuleiten, ist mir natürlich immer eine Freude.»


«Es ist unser tägliches Brot, Menschen empathisch im Gespräch abzuholen»
Aktuell besteht das Dispositionsteam der Rettung St.Gallen aus 14 Mitarbeitenden. Täglich wickeln sie über 400 Notrufe aus dem Kanton St. Gallen, Appenzell Inner– und Ausserrhoden sowie dem Kanton Glarus ab. Im Interview erklärt Alexander Nied, Leiter der Sanitätsnotrufzentrale St.Gallen, welche Kompetenzen sie von einer Disponentin oder einem Disponenten erwarten.
Um die Situation vor Ort einschätzen zu können, braucht es medizinisches Fachwissen. Welche Ausbildung setzt ihr für die Arbeit als Disponent oder Disponentin voraus?
Alexander Nied: Man muss mindestens die einjährige Grundausbildung als Transportsanitäterin oder Transportsanitäter mitbringen. In der Regel sind bei uns aber alle diplomierte Rettungssanitäterinnen oder Rettungssanitäter. Grundsätzlich entscheiden sich die meisten erst nach langjähriger Erfahrung im Rettungsdienst, in die Disposition zu wechseln. Denn eine Arbeit im Aussendienst ist schon ein wenig actiongeladener und ein wenig interessanter für den Anfang. Durch die mehrjährige Erfahrung im Rettungsdienst sind sie auch in der Lage, ein medizinisches Abfragegespräch fachlich fundiert zu führen.
Welcher Dienst ist denn belastender, der Innendienst als Disponent oder Disponentin oder der Aussendienst als Rettungssanitäterin oder Rettungssanitäter?
Ich glaube, beide Jobs haben auf eine gewisse Art und Weise ihre Herausforderungen. Das kann man schwer miteinander vergleichen. Die Herausforderung hier in der Zentrale ist sicher, innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen zu treffen, ohne dass man einen visuellen Eindruck hat. Draussen im Rettungsdienst hat man zusätzlich das Visuelle, man sieht, was passiert. Es ist einfacher, ein Bild von den Patientinnen und Patienten und der Situation zu erhalten. Allerdings hat man dann das Bild im Kopf und das bleibt uns als Disponent oder Disponentin erspart.
Welches Persönlichkeitsprofil wird von den Mitarbeitenden erwartet?
Grundsätzlich sollte man ein Teamplayer oder eine Teamplayerin sein, weil man doch auch miteinander arbeitet. Man disponiert Fahrzeuge im Team und spricht sich rege ab. Man muss auch eine gewisse Selbstständigkeit mitbringen und dazu in der Lage sein, unter Druck schnell Entscheidungen zu fällen, weil man bei Dispositionsstrategien sehr spontan umdenken oder neue Lösungen finden muss. Man muss verantwortungsbewusst arbeiten können, denn es geht schlussendlich um Menschenleben, das ist einfach so. Und natürlich setzen wir gute Kommunikationskompetenzen voraus. Immerhin ist es unser tägliches Brot, Menschen empathisch im Gespräch abzuholen.
Wie sieht es denn so aus mit der Belastungsfähigkeit? Wird das im Vorhinein geprüft?
Natürlich kaufen wir nicht die Katze im Sack. Bewerbende müssen drei Tage bei uns in Begleitung eines Coaches arbeiten. So sehen wir, wie sie am Telefon agieren. Ein Grossteil der Mitarbeitenden kommt aus dem eigenen Rettungsdienst, aus der Rettung St. Gallen AG. Das heisst, man kennt die Leute mit ihrem Profil und weiss auch, wie sie draussen arbeiten.
Welche Prüfungen neben der Grundausbildung müssen die Disponentinnen und Disponenten absolvieren.
Wir erwarten von allen Mitarbeitenden, dass sie berufsbegleitend einen Vorbereitungslehrgang absolvieren. Mit diesem erlangt man die Qualifikation Disponentin oder Disponent Notrufzentrale mit eidgenössischem Fachausweis. Dabei sammeln sie bereits sehr viel Praxiserfahrung. Dieser Vorbereitungslehrgang stützt sich auf das Persönlichkeitsprofil, welches man schon beim Aussendienst mitbringen muss. Zusätzlich geht es um Kommunikationskompetenz aber auch um Selbstreflexion, selbst an seiner Leistung zu arbeiten und seine Gespräche zu reflektieren.

Katinka Graf studiert Kommunikation und Medien im 4. Semester an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Nebenbei ist sie Social Media Verantwortliche der Jugendmusik Uzwil und betreibt deren Webseite.