Zum dritten Mal in Folge unterrichten ab August Hunderte von Personen ohne Diplom in Zürcher Primarschulen. Wozu brauchen Lehrpersonen eigentlich noch ein Diplom? Dazu haben Eltern, Schulleitungen, Lehrpersonen und Personen ohne Diplom verschiedene Ansichten.
Autorin: Nicole Rohland (rohlanic@students.zhaw.ch)
Titelbild: Der Einsatz von didaktischen Materialien ist Inhalt des Lehrdiploms, Bildquelle: Nicole Rohland
Illustrationen: Nicole Rohland
Aufgrund des Lehrpersonenmangels unterrichten ab August schätzungsweise 500 Personen ohne Lehrdiplom (genannt: Poldi) an Zürichs Primarschulen. Damit geht die ursprüngliche Notlösung in die dritte Runde. Es drängt sich die Frage auf: Brauchen Primarlehrerinnen und Primarlehrer überhaupt ein Diplom? Und wenn ja, wozu? Was einer Mutter Bildungserfolg verspricht, ist in den Augen eines Schulleiters eine Formalität.
Überlastete Lehrpersonen
Seit Einführung des neuen Berufsauftrags (nBA) im Jahr 2017 ist der durchschnittliche Beschäftigungsgrad einer Zürcher Lehrperson von 71% auf 69% gesunken. Eine wesentliche Ursache für den Lehrpersonenmangel ist gemäss dem Zürcher Lehrer- und Lehrerinnenverband (ZLV) die strukturelle zeitliche Überlastung der Lehrpersonen im nBA. Im Audio diskutieren Christian Hugi, Präsident des ZLV, und Dieter Rüttimann, Gründer der Gesamtschule Unterstrass darüber, was es braucht, damit Lehrpersonen in ihrem Beruf nicht ausbrennen.
Quelle Audio: Nicole Rohland
Die Perspektive einer Mutter:
Das Diplom verspricht Bildungsqualität

«Eine diplomierte Lehrperson verspricht gute Bildung.», sagt Sabrina S. und: «Wenn mein Kind zu einer Person in die Schule geht, die kein Diplom hat, würde ich es gerne wissen.» Das letzte Mal habe sie es nur durch Zufall erfahren.
Dass das Lehrdiplom einen Einfluss auf die Bildungskarriere von Kindern hat, zeigt die PISA-Studie: Schülerinnen und Schüler aus Schulen mit kritischem Lehrpersonenmangel schnitten statistisch signifikant schlechter ab als jene aus Schulen ohne Lehrpersonenmangel. «Das Lehrdiplom befähigt Lehrpersonen, ihren Beruf auf einem hohen, qualitativen Niveau auszuüben», sagt Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrer:innenverbandes (ZLV).
PISA 2022: Leistungsvergleich zwischen Schulen mit/ohne Lehrpersonenmangel

Dass es unter den unausgebildeten Lehrpersonen auch Ausnahmen gibt, vermutet Beat Flach, Schulleiter in Winterthur. «Natürlich ist mein grundsätzliches Vertrauen in die Arbeit einer Lehrperson grösser, wenn ich weiss, dass sie sich mit den berufsrelevanten Themen im Studium auseinandergesetzt hat», sagt er. Wichtiger als das Diplom einer Lehrperson sei aber die tatsächliche Qualität ihrer Arbeit. Wenn er Mängel feststelle, greife er ein.
N.T. (Name der Redaktion bekannt) arbeitet seit einem Jahr als Person ohne Lehrdiplom im Kanton Zürich. Auch bei ihr wurden die Eltern nicht informiert. «Einmal haben Eltern wegen Noten reklamiert», sagt sie, «da dachte ich: Jetzt fliegt alles auf.» Ihre Schulleiterin prüfte den Fall und teilte ihr mit, dass sie nichts falsch gemacht hat. «Da habe ich realisiert, dass Eltern wohl allgemein kritisch sind», sagt N.T.
Dass sich Lehrpersonen unter der ständigen Beobachtung von Eltern stehen, kann Mutter Sabrina. S. nachvollziehen. «Gerade mit zwei Kindern komme ich nicht drumherum, Lehrpersonen miteinander zu vergleichen.» Dennoch: Am Ende haben Eltern auch kein Diplom. «Ich glaube, das ist ein gesellschaftliches Phänomen», sagt Sabrina S., «dass Menschen bei allem mitsprechen wollen, selbst wenn sie davon keine Ahnung haben».
Fünf Merkmale von gutem Unterricht
Bilder: Nicole Rohland
Didaktische Materialien
Wendeplättchen

Mit den zweifarbigen Wendeplättchen lassen sich Rechen- und Lösungswege
veranschaulichen. Die Kinder können durch das Wenden oder Verschieben der Plättchen Rechenoperationen besser verstehen und sie sich einprägen.
Bild: Nicole Rohland
Zehnerholz

Das Zehnerholz dient Kindern als Rechenhilfe bei Addition und Subtraktion. Zahlen können damit in Tausender, Hunderter, Zehner und Einer zerlegt oder gebündelt werden.
Bild: Nicole Rohland
Die Perspektive einer Lehrperson:
Das Diplom belegt die erfolgreiche Ausbildung

Personen ohne Diplom verdienen im Kanton Zürich derzeit 80% des üblichen Lohnes. So auch N.T. „Ich verstehe das nicht“, sagt N.T., die einen Bachelorabschluss hat und früher in der Erwachsenenbildung arbeitete. «Am Ende mache ich doch die gleiche Arbeit wie alle anderen.»
«Die irrige Annahme, dass ein Flair für Kinder ausreicht, um Primarlehrperson zu sein, besteht in einigen Teilen der Gesellschaft schon länger», sagt Christian Hugi, der selbst als Primarlehrer unterrichtet. Dies sein ein Problem. Denn das dazu benötigte Wissen über Kinderentwicklung, Lernprozesse, didaktische Prinzipien und methodische Fähigkeiten habe man nicht einfach so. Beispielsweise lernen Lehrpersonen in ihrer Ausbildung den Pygmalioneffekt kennen. «Nur wer weiss, dass es diesen Effekt gibt, kann sein Verhalten anpassen.»
Der Pygmalioneffekt: Selbsterfüllende Prophezeiung
Der Pygmalioneffekt ist ein psychologisches Phänomen, bei dem sich eine Erwartung, welche eine Lehrperson an ein Kind hat, sich derart auf seine Leistung auswirkt, dass sie sich bestätigt. Das Phänomen basiert auf einem Experiment von Robert Rosenthal und Lenore F. Jacobson. Sie wiesen nach, dass Lehrpersonen, denen suggeriert wird, bestimmte Schüler:innen seien besonders begabt, diese unbewusst so fördern, dass deren Leistungen tatsächlich steigen.
N.T. kennt den Pygmalioneffekt. Sie stammt aus einer «Lehrer-Familie», welche ihr viel pädagogisches Wissen mitgab. Mit ihrer Einstellung über Lohn stehe sie aber alleine da. «Vielleicht ändere ich meine Meinung ja, wenn ich mein eigenes Diplom in den Händen halte», sagt N.T., welche im Sommer ihre Teilzeitausbildung an der PH beginnt.
Dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen für den Lehrberuf mitbringen, ist sich ZLV-Präsident Christian Hugi bewusst: «Natürlich gibt es für diesen Beruf begabtere und weniger begabte Menschen. Aber dass man diesen Beruf professionell ausüben kann, muss zu Recht belegt werden.» Das Diplom sei zwar nur ein Papier. Aber es bestätige die erfolgreiche Ausbildung. Dies sei wichtig, wie auch bei jedem anderen Beruf.
Die Perspektive einer Poldi:
Das Diplom bedeutet Anerkennung

Dass das Lehrdiplom über Zugehörigkeit entscheidet, bekommt N.T. in ihrem Alltag zu spüren. «Die Lehrpersonen meiner Schule sind zwar nett zu mir, aber ich glaube manchmal, dass ich in ihren Augen die Böse bin, die Kindern nichts Anständiges beibringen kann.» Dass N.T. mit diesem Gefühl nicht alleine ist, zeigt die Studie «Aussergewöhnlicher Berufseinstieg» der PH Zürich, welche eine Hierarchie zwischen Lehrpersonen mit und Lehrpersonen ohne Ausbildung feststellte.
Nicht nur das Diplom, auch das didaktische und pädagogische Wissen verbindet Lehrpersonen, sagt der Schulleiter Beat Flach. Ein Team mit vielen ausgebildeten Lehrpersonen kann sich fachlich auf hohem Niveau austauschen und bildet sich so laufend weiter, wohingegen in Schulen mit Lehrpersonenmangel wenig qualifizierter Austausch stattfindet und das Fachwissen abnimmt.
Ob Personen ohne Diplom zum Lehrberuf dazugehören, ist für den ZLV-Präsidenten Christian Hugi eine Frage der persönlichen Haltung. «Zum Lehrberuf gehört, dass man sich weiterbildet. Wer dazu nicht bereit ist, ist hier am falschen Ort.» Dass die PH für Abgänger:innen aus Gymnasien zur zweiten Wahl wird, könnte unter anderem auch am Hochschulstatus liegen. «Im Kanton Genf studieren angehende Lehrerinnen und Lehrer an der Uni und dort gibt es keinen Lehrpersonenmangel.»
Akademisierung des Lehrberufs
Um die Jahrtausendwende wurden in der Schweiz die Pädagogischen Hochschulen gegründet. Dazu wurde die Lehrpersonenausbildung neu strukturiert und in die schweizerische Hochschullandschaft integriert. Ziel war es, das Niveau der Lehrerpersonenausbildung zu heben, um als Schweiz international konkurrenzfähig zu bleiben. Heute erwerben Lehrpersonen während ihrer Ausbildung Kreditpunkte nach dem European Transfer System (ECTS). Dies entspricht den Vorgaben des 1999 gegründeten Bologna-Systems.
Vor der Akademisierung war das Lehrdiplom nur kantonal gültig. Heute geniessen Lehrpersonen durch die Anerkennung der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) Personenfreizügigkeit.
Die Perspektive einer Schulleitung:
Das Diplom überakademisiert den Lehrberuf

Braucht es in der pädagogischen Ausbildung überhaupt Akademisierung? «Nur wenn die Theorie den Bezug zur Praxis nicht verliert», sagt der Schulleiter Beat Flach. In seinen 19 Jahren als Schulleiter habe er oft erlebt, dass bei PH-Neuabgänger:innen erst im Beruf die relevanten Fragen an die Wissenschaft auftauchen. Aus diesem Grund wäre es von Vorteil, im Studium mehr Erfahrung zu sammeln und die individuellen Wissenslücken theoriegestützt zu füllen.
Christian Hugi stellt es in Abrede, dass die pädagogische Ausbildung zu wissenschaftlich ausgerichtet ist. «Vielleicht bleibt während des Studiums nicht alles haften, dennoch bietet eine umfassende Auseinandersetzung mit aktuellen Erkenntnissen der Bildungsforschung ein wichtiges Fundament für die spätere Berufsausübung.»
Dass dieses Fundament nicht ausreicht, findet Beat Flach. Gerade in multikulturellen Schulen brauche es Lehrpersonen mit Persönlichkeit, guten Führungs- und Beziehungsfähigkeiten.
Schwerpunkte und Entwicklungspotenziale der Pädagogischen Ausbildung
Was lernen Studentinnen und Studenten an der Pädagogischen Hochschule? Dieter Rüttimann, Gründer der Gesamtschule Unterstrass, hat bei der Konzeption der Lehrer:innenbildung in Zürich mitgewirkt. Im Video erklärt er, wo die Schwerpunkte der aktuellen Ausbildung liegen und was er heute bei einer Neukonzeption anders machen würde.
Quelle Video: Nicole Rohland
Dass Poldis Beziehungsfähigkeiten besitzen können, zeigt das Beispiel von Sabrina S. Bei der Person ohne Diplom sei ihr Sohn plötzlich gerne in die Schule gegangen, sagt sie. Die Beziehung mit der ausgebildeten Lehrperson davor habe einfach nicht funktioniert. Aber, kommt die Mutter zweier Schulkinder auf ihren Anspruch zurück: «Die Rechtschreibung, welche mein Sohn heute nahezu perfekt beherrscht, ist der Verdienst der diplomierten Lehrperson.»

Ich finde es unglaublich spannend, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Als ausgebildete Primarlehrerin und angehende Journalistin interessiere ich mich besonders für Themen wie Bildung, Erziehung und Psychologie.